Pandemie Perspektiven

Wenn seine Schmerzgrenze erreicht ist, fängt er an zu schreien. Er brüllt dann einfach los und hört nicht so schnell wieder auf. Dann kommt alle paar Sekunden ein lautes AAAAAHH. Er macht es, um Dampf abzulassen, wenn ihm alles zu viel wird. Verständlicherweise. Es ist schließlich Lockdown.


Er, das ist mein Sohn, fast 6, Vorschüler, kleiner Bruder einer 8-jährigen Schwester, die ihm täglich zeigt, dass er sie nervt – und umgekehrt. Der seit Wochen seine Kita-Freund:innen und seit einem Jahr seine Großeltern nicht gesehen hat. Sohn zweier Eltern, die täglich versuchen Homeoffice, Homeschooling und Home-Entertainment unter einen Hut zu bekommen – und dabei immer wieder untergehen. 


Ja, wir jammern auf hohem Niveau. Wir sind gesund, wir haben einen Job, wir sind zu zweit als Eltern, wir haben sogar ein Haus mit Garten. Jeder von uns gönnt sich sogar einen ganzen Tag im Büro. Ich nenne ihn ‘Wellnesstag’ und meine das todernst. Arbeiten ohne ständig unterbrochen zu werden ist meine neue Fußmassage. Und doch halte ich es in letzter Zeit immer öfter wie mein Sohn: Ich schreie. Wahlweise in Richtung meiner Kinder, meines Mannes oder einfach der Wand. Manchmal schmeiße ich mich dabei auch auf dem Fußboden. Ganz wie der 5-jährige. So schließt sich unser Kreis. 


Dass meine Sichtweise auf den Corona-Schlamassel eine rein subjektive ist, ist mir bewusst. Auch wenn es vielen (Eltern und Kindern) gerade ähnlich geht – jede:r hat am Ende seine ganz persönliche Schmerzgrenze. Dass Eltern sich gegenseitig schief angucken, wenn die einen ihre Kinder in die Notbetreuung geben, die anderen sich hingegen mit Kindern und Jobs zu Hause abrackern, ist nicht nur überflüssig, sondern auch übergriffig. Denn was weiß die eine Familie schon, wie es der anderen gerade geht, was diese durchmacht und wo deren Schmerzgrenze gezogen wird? Helfen würden in diesem Fall einheitliche Vorgaben, an die sich jede:r orientierten kann. Wenn Kita und Schule schreiben “Liebe Eltern, Eure Kinder dürfen kommen, aber bitte nur wenn sie nicht anderweitig betreut werden können”, schiebt das die Verantwortung in die Hände des einzelnen. Dass ‘anderweitig’ oft nur ein Euphemismus für Chaos, Geschrei und Nervenzusammenbrüche von Eltern wie Kindern ist, ist nun mal jedem klar. Die Konsequenz sind Familien, die gegeneinander aufgebracht und ausgespielt werden.  


Dann doch lieber klare (politische) Entscheidungen. So wie jetzt, wo nun nach einem Jahr On-off-Beziehung mit Schule und Kita, Lehrer:innen und Erzieher:innen in der Impfrangordnung von heute auf morgen ganz weit nach oben gerutscht sind. Warum erst jetzt, denke ich aus meiner Warte – in der Hoffnung, dass Schulen und Kitas entsprechend schnell wieder in einen Regelbetrieb starten, der seinen Namen verdient. Nicht nur für weniger Geschrei bei uns zu Hause, sonder vor allem für die Kinder, die seit Monaten ungesehen und ungehört vom Bildungs- und Fürsorgeradar verschwunden sind. Doch dann erzählt mir am Bankautomat ein Mann um die 50 von seinen chronischen Lungenkrankheiten, und dass das mit den Lehrer:innen und Erzieher:innen ja das Allerletzte sei. Er springe vermutlich über die Klinge, weil irgendwelche gesunden 30-jährigen nun Impf-Priorität hätten. Als ich noch überlegte, ob ich nun mit meiner Sichtweise als arbeitende Mutter im Home-Office-Schooling-Wahnsinn und meiner Sorge um das kollabierende Bildungs- und Fürsorgesystem in in den Gegenangriff starten soll, fragt der Mann mich irritiert: “Oder sind Sie etwa Lehrerin?” 


Ja, was ist eigentlich deren Sichtweise? Kanonenfutter seien sie, sagt mir eine bekannte Pädagogin kürzlich. Weil bislang Steuergelder lieber für Lufthansa statt Luftfilter an Schulen investiert wurden, riskieren sie sich anzustecken. Teilweise schicken Kolleg:innen die eigenen Kinder in die Notbetreuung, nur damit sie die Aufsicht übernehmen für Kinder, deren Eltern wiederum arbeitslos zu Hause säßen. Sorge um ihre Schüler:innen habe sie dennoch, sagt sie. Vor allem um gerade jene mit Eltern, die zwar aufgrund von Arbeitslosigkeit vermeintlich mehr Zeit, aber eben oft auch mehr Sorgen, mehr psychische Probleme und weniger emotionale Ressourcen haben, um ihre Kinder unterstützen zu können im täglichen Kampf an der Homeschooling-Front – sofern dieser überhaupt noch gekämpft wird. 


Wo wir bei der nächsten Perspektive wären: Menschen ohne Perspektive. Die ihre Arbeit, ihre Existenz oder gar ihren Lebensmut mit der Pandemie und angesichts neuer Mutanten verloren haben. Die Angst um ihr Leben oder das eines lieben Menschen haben. Die einsam sind, weil sie seit fast einem Jahr kaum einen Menschen gesehen haben. Höchstens vielleicht das Pflegepersonal. Und deren Perspektive angesichts minimaler Bezahlung bei maximalem Einsatz von Leib und Leben, die dabei vielleicht auch schreiende Kinder zu Hause haben, möchte ich mir an dieser Stelle gar nicht ausdenken. 


Und so dreht sich das Perspektivenrad immer weiter. Immer gibt es jemanden, dem es vermeintlich schlechter oder besser geht. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass Corona nicht nur Menschen töten, sondern auch Gesellschaften spalten kann. Dass die Schmerzgrenzen von ganzen Berufs- und Interessengruppen über einen Kamm und mit jedem neuen Lockdown-Tag vehementer von anderen gezogen werden. Doch hilft das niemanden weiter, denn eine Schmerzgrenze ist und bleibt persönlich. 


Unter jedem Dach ein Ach – wie eine Freundin von mir immer sagt, wenn ich anfange meinen Schmerz entweder auf einen Sockel oder unter den Scheffel zu stellen. Mal ist das ‘Ach’ laut und deutlich zu hören, mal leise, manchmal sogar stumm. Aber jedes ‘Ach’ hat seine Berechtigung. Es ist okay, sein persönliches ‘Ach’ rauszuschreien. Manchmal ist es sogar notwendig, um nicht komplett durchzudrehen. Nur dass es unter unserem Dach kein ‘Ach’ ist, sondern ein AAAAAHH...

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