Zuhause ist keine Option

So oft versuchen wir über unseren Tellerrand zu schauen, uns mit gesellschaftsrelevanten Themen auseinanderzusetzen und alle Ebenen der Nachhaltigkeit zu durchdringen.

Missstände prangern wir dabei überwiegend in der Ferne an, doch uns ist aufgefallen – eigentlich müssen wir nur vor die eigene Haustür blicken:


Rund 648.000 Menschen in Deutschland leben laut aktuellster Schätzung der BAG W aus dem Jahr 2018 ohne Wohnung, ganze 41.000 von ihnen sogar ohne jegliche Unterkunft auf der Straße, obdachlos. Gerade in der kalten Jahreszeit ist das für die meisten von uns unvorstellbar, für die Betroffenen hingegen brandgefährlich. Die wohnungslosen anerkannten Geflüchteten sind in der zweiten Zahl noch nicht einmal enthalten, weil für sie keine entsprechenden soziodemografischen Daten vorliegen. Übrigens: Offizielle Statistiken und Zählungen gibt es nicht, man mutmaßt, sie würden den Handlungsdruck auf die Politik zu sehr erhöhen. Wegschauen macht es nicht besser, aber einfacher. 


Doch gerade jetzt – im Winter und mitten in der Pandemie – geht es den Ärmsten unserer Gesellschaft noch schlechter: Fehlende Spenden, geschlossene Aufenthalts- und Aufwärmmöglichkeiten, fehlende Orte für die menschlichsten Ansprüche und Hygiene. Während im Frühjahr letzten Jahres noch fleißig Gabenzäune bestückt wurden, hat die Unterstützung inzwischen deutlich nachgelassen. Hinzu kommen reduzierte Hilfsangebote und Plätze in Notunterkünften sowie der mangelnde Schutz vor Infektionen. Eine geschützte Einzelunterbringung in nahezu leer stehenden Hotels und Hostels ist ‘Einzelfällen’ vorbehalten, geht nur schleppend, teilweise gar nicht voran. Warum muss das sein und warum sehen wir schier hilflos oder gar nicht zu?


Stigmatisierung und Kriminalisierung

Seien wir mal ehrlich: vermutlich hatten viele von uns bei den Worten wohnungs- oder obdachlos ziemlich genaue Bilder im Kopf. Sicher hängt das bis zu einem gewissen Grad mit eigenen Erfahrungen zusammen, gleichzeitig wird dieses jedoch durch Annahmen und Erzählungen von vergleichsweise wenig auffälligen Begegnungen reproduziert und auf einen deutlich größeren Teil unserer Gesellschaft übertragen. Denn aufgrund ihrer Lebensumstände werden wohnungslose Menschen häufig von vielen Stadtbewohner:innen als ‘nicht normal’ abgestempelt. Verschiedene mediale Berichterstattungen, eigene Vorannahmen und das Fehlen tiefergehender Information führen zur Stigmatisierung einer ganzen Personengruppe. Verschiedene Soziolog:innen und Psycholog:innen belegen zudem, dass sich einige stigmatisierte Menschen irgendwann anfangen so zu verhalten, wie es ihnen von außen auferlegt wurde. Sie können dem Druck nicht mehr standhalten, das Risiko zu vereinsamen steigt.

Durch die sogenannte Individualisierung der Schuldfrage suchen wir die Schuld gern bei Einzelpersonen, unterstellen Freiwilligkeit oder Fahrlässigkeit wenn es um das Leben auf der Straße geht. Unsere durchtrainierte Leistungsgesellschaft kann nur schwer Verständnis für diejenigen aufbringen, die nicht zum Wohlstand beitragen. Da fällt es leicht, sich aus komfortabler Distanz aus der Verantwortung zu ziehen, anstatt sich mit sozialen Problemen und gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen, die einen selbst auch betreffen würden. 


Unerwünscht im öffentlichen Raum

Hinzu kommt, dass es nur wenige Plätze im öffentlichen Raum gibt, an denen obdachlose Menschen geduldet werden. Ihre bloße Anwesenheit gilt in der städtischen Politik als image- und konsumschädigend, als Faktor sinkender Wettbewerbsfähigkeit. Verschiedenste Maßnahmen, die zur Verdrängung marginalisierter Gruppen aus den Innenstädten führen, werden oft mit öffentlicher Sicherheit und Ordnung legitimiert, da sich ein subjektives Unsicherheitsgefühl gegenüber obdachlosen Menschen bei dem Großteil der Gesellschaft manifestiert hat. Und so wären wir wieder beim Punkt der Stigmatisierung. À la “aus den Augen, aus dem Sinn” verhindert ein erzwungener Ortswechsel jedoch den lösungsorientierten Umgang mit Obdachlosigkeit, während er für Betroffene gar eine Verschlechterung der Lebensumstände bedeuten kann. Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass es unter Obdachlosen auch dubiose Gestalten gibt, Gesetzesbrüche und Suchtmittelkonsum. Das soll an dieser Stelle nicht verharmlost werden, jedoch sollten wir uns bewusst machen, dass es das in nahezu jeder anderen Gesellschaftsschicht auch gibt – vielleicht nur nicht sichtbar auf dem Gehweg. 


Was können wir tun?

Wir können uns fragen, welche Annahmen aus echten Erfahrungen resultieren und wann wir voreilig oder durch ein medial geprägtes Bild urteilen. Das ist unbequem, aber manchmal hilft es, sich die eigenen Vorurteile einzugestehen, um sie so aktiv abbauen zu können. 

Wir sollten versuchen, wohnungs- und obdachlosen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, sie wahrnehmen und ihnen zuzuhören, wenn es sich ermöglicht. Wir können auf sie zugehen und ihnen menschliche Wärme durch Gespräche spenden, denn einige haben unter Umständen tagelang keinen richtigen Kontakt zu anderen. 

Praktischer gedacht lassen sich unzählige Ansätze unterschiedlichen Aufwands finden, vom Kauf eines Straßen Magazins, über das Bestücken eines Gabenzauns bis hin zum ehrenamtlichen Engagement oder dem proaktiven Einsatz für Hotelöffnungen. 

Um direkt zu starten: In vielen Städten gibt es einen Kältebus, dessen Nummer wir abspeichern können, um weitere Kältetote zu verhindern. Diverse Einrichtungen sind auf verschiedenste Sach- und Geldspenden angewiesen, hier einfach mal informieren, was gerade benötigt wird. Wer beim Ausmisten also eine ungenutzte Campingausrüstung oder gut erhaltene Kleidungsstücke findet, erhält sie durch eine Weitergabe länger im Kreislauf und hilft anderen in der Not. Leider fluten mittlerweile zunehmend unbrauchbare Textilien aus der Fast Fashion Industrie die Altkleider-Container und Spendenannahmen, sodass etwa in Hamburg alle Altkleider-Container abgebaut werden mussten, das DRK die eigenen sperrte und viele Hilfseinrichtungen die Annahme stoppten.


Wie ihr vielleicht merkt, gibt es viele Möglichkeiten der Unterstützung und noch viel zu tun. Also lasst uns hinschauen – weiterhin in die Ferne, aber auch direkt in unserer Stadt. 

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